Gerhart Bruckmann entsprach nicht dem Klischeebild eines hochspezialisierten Wissenschaftlers, dem seine fachliche Ausrichtung vorgezeichnet war und der seinen Weg geradlinig gegangen wäre. Sein Charakteristikum war vielmehr sein breites Wissen in unterschiedlichen Gebieten und das daraus resultierende multi- und interdisziplinäre Schaffen.
Nachdem er 1949 mit „sehr gut“ in sämtlichen Gegenständen maturiert hatte, hätte er am liebsten alle Studienrichtungen gleichzeitig inskribiert. Seine spätere akademische Lehrtätigkeit war ihm allerdings in die Wiege gelegt: Väterlicher- wie mütterlicherseits erblich belastet, verdiente er sich sein Taschengeld bereits als 13-Jähriger mit Nachhilfestunden auch für ältere Schüler.
Bereits mit 15 Jahren schrieb er eine Abhandlung über ganzzahlige pythagoräische Dreiecke und beschäftigte sich höchst kreativ mit Problemstellungen der Arithmetik.
Seinem breiten Interessensspektrum folgend studierte er Bauingenieurwesen, Volkswirtschaftslehre, Mathematik, Versicherungsmathematik, Physik und Statistik. Durch die wiederholte Zuerkennung von Stipendien war es ihm möglich Studien in Graz, USA, Wien und Rom zu finanzieren. Schließlich promovierte er 1956 in Rom aus Statistik und Versicherungswissenschaften (auf Italienisch) mit der höchsterreichbaren Note. Darüber hinaus wurde ihm für seine Dissertation über „Aspetti statistici ed attuariali della rischiosità del fulmine“ der 1. Preis des Istituto Nazionale delle Assicurazioni verliehen.
Nach seinem Studium plante er eine Karriere im Versicherungswesen, verbunden mit Lehraufträgen an der Wirtschaftsuniversität. Eher zufällig erhielt er 1957 einen Posten als Statistiker im Fachverband der Textilindustrie (Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft), wurde dann Chefstatistiker der gesamten Industriesektion und 1964 mit der Leitung eines (neu geschaffenen) Statistischen Büros der gesamten Wirtschaftskammer betraut. Ab 1963 war er teilweise dienstfrei gestellt, um als Seminarassistent am Institut für Höhere Studien mitzuwirken.
Gleichzeitig entfaltete er eine publizistische Tätigkeit über wirtschafts- und sozialpolitische Themen wie etwa produktivitätsorientierte Lohnpolitik.
Die Nationalratswahlen 1966 sollten das Leben von Gerhart Bruckmann entscheidend verändern. Bruckmann hatte – weltweit als einer der ersten – ein mathematisch-statistisches Verfahren zur Hochrechnung von Wahlergebnissen aus Teilresultaten entwickelt, das er anlässlich der Nationalratswahlen vom 6. März 1966 anwandte und im Österreichischen Fernsehen erstmals öffentlich präsentierte. Damit stand er über Nacht im Rampenlicht und wurde einer breiten Öffentlichkeit als Wahlhochrechner der Nation bekannt.
Der Eindruck, den dieses Auftreten machte, lässt sich heute nur schwer nachvollziehen; in der damaligen Frühzeit des Einsatzes elektronischer Rechenanlagen schien diese Hochrechnung schiere Zauberei. Er publizierte sein Verfahren als Habilitationsschrift noch im selben Jahr und wurde 1967 an die Hochschule Linz und 1968 an die Universität Wien, als o. Univ.-Prof. für Statistik in der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät berufen. Gleichzeitig wurde ihm die Leitung des Instituts für Höhere Studien anvertraut, eine Tätigkeit, die er bis 1973 wahrnahm.
Aus dieser Zeit stammen seine wichtigsten fachwissenschaftlichen Beiträge wie eine Axiomatisierung der Konzentrationsrechnung sowie die Konstruktion eines Konzentrationsindex, der auch Beziehungen zwischen den Merkmalsträgern Rechnung trägt („A generalized concept of concentration and its measurement“, Statistische Hefte N3. 3/4, 1971).
Die nächste Weichenstellung erfuhr seine Karriere, als er Anfang 1970 vom damaligen Bundeskanzler Klaus zu einem Mittagessen mit den führenden Exponenten des 1968 gegründeten Club of Rome eingeladen wurde. Dort referierte der legendäre, charismatische Gründer des Clubs, Aurelio Peccei, über die „World Problematique“, die gegenseitige Verflochtenheit demographischer, wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Probleme, und dass es dringend notwendig erscheine, diese Verflochtenheit wissenschaftlich zu untersuchen. Bruckmann fiel es wie Schuppen von den Augen: Dieses undefinierte, nebulose, alle herkömmlichen Grenzen der Disziplinen transzendierende Grenzgebiet schien genau auf ihn zugeschnitten zu sein. Seit damals hat er sein gesamtes wissenschaftliches Schwergewicht dieser Thematik gewidmet (neben Fragen des Wahlrechts und der Wahlarithmetik).
Im Rahmen seiner akademischen Tätigkeit war Bruckmann mit Leib und Seele Lehrer. Seine Vorlesungen waren aufgrund seines didaktischen Geschicks und seiner packenden Rhetorik für viele Generationen von Studierenden ein Highlight im studentischen Alltag.
Er bewies auch in der Lehre seine Innovationskraft. So propagierte er die Idee, Planspiele in die Lehre zu integrieren, mit von ihm selbst entwickelten Unternehmensplanspielen. Diese Proseminare wurden jedes Jahr zweimal angeboten – einmal als Blockveranstaltung an der Universität in Wien und einmal im Bundessportheim Hintermoos, verbunden mit einem gemeinsamen Skikurs.
Besondere Freude bereiteten ihm Lehrveranstaltungen in kleinem Kreis, z.B. viele Jahre hindurch an der Sommerhochschule der Universität Wien über „Social Forecasting“.
Da Bruckmann die wachsende Bedeutung der Computerwissenschaften schon früh erkannt hatte, setzte er sich massiv für die Einrichtung eines angewandten Studiums der Informatik an der Universität Wien ein. Gemeinsam mit dem Ordinarius für Betriebswirtschaftslehre, Erich Loitlsberger, entwickelte er das 8-semestrige Studium der Betriebs- und Wirtschaftsinformatik an der Universität Wien, das bis heute (natürlich in abgeänderter Form) besteht.
Nach seinem freiwilligen Ausscheiden aus dem IHS war er (bis 1984) als Konsulent des IIASA tätig, wo ihm u.a. die wissenschaftliche Durchführung einer Konferenzserie über „Weltmodelle“ oblag.
1971 wurde er zum korrespondierenden Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Noch vor Erscheinen der „Grenzen des Wachstums“ hielt er vor der Akademie einen Vortrag über „Exakte Methoden in der Futurologie“; 1972 wurde er zum – damals jüngsten – wirklichen Mitglied gewählt.
Es blieb nicht aus, dass er in zahlreiche akademische (und nicht-akademische) Gremien berufen wurde. Mit Leopold Schmetterer gründete er das Institut für sozio-ökonomische Entwicklungsforschung an der Akademie der Wissenschaften. Außerdem war er Vertreter der Akademie in der European Science Foundation und ab 1984 auch im Rat des IIASA.
Er war Mitglied des Gründungsausschusses der Klagenfurter Hochschule, Vorsitzender der österreichischen Gesellschaft für langfristige Entwicklungsforschung und der Zukunftskommission der Österreichischen Volkspartei. 1983–1985 war er Dekan der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. 1978 hatte er eine Gastprofessur an der Universität Paris-Dauphine.
Von 1983–1985 war Bruckmann Präsident der Österreichischen Statistischen Gesellschaft (ÖSG), zu deren Ehrenmitglied er 1997 gewählt wurde. Er ist auch Namensgeber des Gerhart Bruckmann Preises der ÖSG, der seit 2015 für Aktivitäten vergeben wird, die dazu beigetragen haben, den Stellenwert und das Ansehen der Statistik in der Öffentlichkeit zu verbessern.
1988–1991 war er Präsident des Österreichischen Akademikerbundes, 1990–1999 Präsident der Österreichisch-Italienischen Freundschaftsgesellschaft. In Anerkennung dieser Tätigkeit wurde ihm das Komturkreuz der Republik Italien verliehen (verbunden mit dem Titel „Commendatore“).
1986 lud ihn der damalige Bundesparteiobmann der ÖVP, Alois Mock, ein, „seine Auffassungen innerhalb der ÖVP und im Nationalrat zu vertreten“. Er folgte diesem Ruf und war von 1986–1994 und von 1999–2002 Abgeordneter zum Nationalrat. Die zeitliche Belastung erwies sich als zu groß (so nahm er z.B. im Jahre 1988 – zusätzlich zu seinen universitären und parlamentarischen Verpflichtungen – 112 Vortragseinladungen und Diskussionsteilnahmen wahr); daher beendete er 1992 seine Tätigkeit an der Universität Wien. 2002 schied er – mit Auslaufen der Legislaturperiode – mit 70 Jahren als damals ältester Abgeordneter aus dem Nationalrat aus.
Im Nationalrat war er in mehreren Ausschüssen tätig; auch war er Vorsitzender der parlamentarischen Freundschaftsgruppe mit Großbritannien und mit der Republik Korea, ferner Vorsitzender des Österreichisch-Japanischen Komitees für das 21. Jahrhundert, wofür er mit dem Orden der aufgehenden Sonne ausgezeichnet wurde.
1998 wurde ihm das Ehrendoktorat der Universität Linz verliehen.
Bruckmann verfasste im Laufe seiner Karriere ein Dutzend Bücher und mehrere hundert Artikel, wobei der Großteil seiner Arbeiten einen angewandten, praxisorientierten Charakter aufweisen.
Auch seine Vorlieben auf nicht-wissenschaftlichem Gebiet waren vielfältig und breit gestreut. So war er der Musik sehr zugetan. Als Kind hatte er Klavier erlernt und später als Student Cello. Er war ausgebildeter Chorleiter, hat selbst Chormusik komponiert und gründete an der Sommerhochschule der Universität Wien in Strobl einen Studentenchor. Auch sportlich hat er sich in einer Vielzahl von Sportarten versucht, von Skifahren über Regatta-Rudern bis Drachenfliegen. Er war Turniertänzer und hat als „Tanzmeister“ eine Eröffnungspolonaise einstudiert und geleitet.
Bruckmann hat eine der weltgrößten Sammlungen von Anker-Steinbaukästen aufgebaut und war dafür auch offizieller Dorotheums-Experte. Er war aktives Mitglied der Döblinger Faschingsgilde und stand in dieser Funktion alljährlich bis ins hohe Alter auf der Bühne. Und was geheim bleiben musste: Mehr als 20 Jahre hindurch war er Testesser eines führenden Gourmet-Guides.
Seinem breiten Oeuvre entsprechend sprach Bruckmann fließend Englisch, Französisch und Italienisch. Auch hat er sich seine Schulkenntnisse aus Latein und Altgriechisch bis ins hohe Alter bewahrt. Für sein Hobby (Sammeln von Anker-Steinbaukästen) hat er in vorgerücktem Alter noch Niederländisch dazugelernt, damit er die Clubzeitschrift des niederländischen Anker-Steinbaukästen-Sammler-Clubs lesen und sich mit niederländischen Sammlerfreunden austauschen konnte.
Anlässlich der akademischen Feier zu seinem 70. Geburtstag sagte er: Wenn er sein Leben nochmals leben könnte, würde er alle großen Entscheidungen wieder genauso treffen. Er sei dem lieben Gott dankbar, dass er ein so reiches und buntes Leben führen durfte.
Bruckmann blieb bis ins hohe Alter an Politik, Wirtschaft und Kultur interessiert. Noch im März 2024 hielt er im Rahmen der Verleihung des nach ihm benannten Preises im Festsaal der OeNB mit der ihm innewohnenden Eloquenz ein Referat.
Gerhart Bruckmann war seiner Familie ein liebevoller Ehemann, Vater, Großvater und Urgroßvater.